Der beste Niesen-Tag ever

Der beste Niesen-Tag ever

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Ich fange bei mir an, obwohl ich nur am Bildschirm dabei war, bei diesem grössten Flugtag am Niesen (für die Nicht-Schweizer bzw. Schweiz-Nichtkenner: der Niesen ist wunderschöner, pyramidenförmiger Berg am Thuner See) , seit wir als Streckenflieger öffentlich nachvollziehbar und messbar auftreten. Ich habe eine Stunde Zeit, über die Flüge meiner Freunde zu berichten. Während die Uhr läuft, fühle ich meinen Fuss unter dem Schreibtisch schwer und hart werden und die Furcht steigt in mir auf, ich erwische eine Trombose. Ich bin gegroundet für den Rest des Sommers (nein, kein Flugunfall). Vorigen Dienstag bekam ich ein Gelenk aus Metall und Kunststoff in die rechte Hüfte eingebaut. Eine Stunde: Hätte Matthäus eine Stunde Zeit gehabt, sein Evangelium aufzuzeichnen, er hätte nicht verzweifelter sein können als ich jetzt – übertrieben? Ok, ja. Ich will ja auch nicht religiös werden, also, keine Zeit vertrödeln, schreiben!

Seinen Flug von diesem Dienstag, 30. Juli kommentiert Urs Haari: „So muss fliegen sein! Gemeinsam, schnell und trotzdem viel Zeit, die Schönheit dieser Bergwelt zu bestaunen.“

Ich liebe dich für diese Einstellung, Urs! So können wir fliegen, bis wir keinen Bremsgriff mehr halten können. Wir haben weiss Gott dieses verdammte Niesen-Dreieck schon hundertmal im Geist geflogen und meine Erinnerung an reale Versuche sind ultra-hd-klar vor meinem inneren Auge. Aber dieser Montag, dieser 30. Juli 2018, dies ist ein historischer Tag in unserem Sport.

Magischer Niesen, fotografiert von Nicole Leuenberger auf ihrem Finalglide über den Thunersee an diesem denkwürdigen Tag.

Die meisten Flüge vom Niesen sind flache Dreiecke. Sie drängen sich auf und sind wunderschön zu fliegen, nie einfach, aber mit Sicherheitsmarge. Denn man kann sie vor die Hauptalpen legen – ausser man wendet erst in Chamonix, eine Mode, die sich immer deutlicher abzeichnet. Die Königsdisziplin vom Niesen ist jedoch das FAI-Dreieck. Wenn der Tag da ist dafür, dann ist es die Eiger-Nordwand der Streckenfliegerei, an der sich jeder halbwegs verrückte Pilot messen will.

Ein grosses FAI Dreieck vom Niesen zu fliegen, ist etwas vom Schwierigsten, was die Alpen zu bieten haben. Du musst schnell fliegen, da am späten Nachmittag Hindernisse von gigantischer Höhe warten: die Hochalpenketten zwischen Wallis und Berner Oberland mit ihren Viertausendern. Die Mindesthöhe für die Passagen ist 3200 Meter, und damit ist man auf null Meter über Grund. Die Windsysteme an diesen Alpenpassagen sind sagenhaft unvorhersehbar. Man muss die Passagen innerlich von weit weg anstubsten, und wenn man sich dafür entschliesst, gibt es irgendwann kein Zurück mehr.

Der Lohn des Mutigen: Die Jungfrau wartet mit hoher Basis für die Abendstrecke.

  • Du musst gut gleiten, da sonst mühsame Baustellen warten.
  • Du musst mutig und sicher fliegen, da man sich zur stärksten Thermikzeit zwischen den Viertausendern des Wallis bewegt.
  • Im Saastal findest du dich in 3000 Metern Höhe im Talwind oder zumindest in Aufwindzonen, die vom Talwind durchgeschüttelt hochkommen.
  • Und du musst Glück haben, denn etliche Windsysteme, unausweichliche Abschattungen und stabile Voralpenbedingungen winken einen oft genug vor dem Ziel von der Strecke.

Der 30. Juli 2018 wird als einer der besten Niesen-Tage in die Chronik eingehen. Dutzende geschlossene 200er waren am Abend zu bestauen, die halb Verrückten mit dem FAI Stempel weit in der Überzahl. Urs Haari mit dem NOVA Sector und Toni Brügger mit dem NOVA Phantom haben es sich nicht nehmen lassen, an diesem allgemeinen Freudentaumel ganz vorne in der Rangliste mitzumachen. Urs flog ein FAI Dreieck von 259 Kilometern, Toni ein FAI Dreieck von 247 Kilometern. Tagesrang 3 und 4 für die beiden.

Was noch bedeutsamer ist: Schirme unserer Klassen und unseres Pilotenanspruchs sind Exoten in der Ewigenrangliste vom Niesen. Urs patziert sich auf Rang 4 Best-Ever vom Niesen, Toni auf Rang 10. Die High Adventure Team Piloten und Pilotin Rolf von Arx (NOVA Phantom), Beat Wyss (NOVA Phantom) und Nicole Leuenberger (NOVA Ion 4) waren auch dabei. Sie rundeten mit 191 km FAI, 201 km flaches und 147 km flaches Dreick die fantastische Team-Bilanzen des Herstellers unserer Wahl ab. Wir Mentor 5-Piloten hatten gute Gründe, an dem Fest nicht teilzunehmen. So. Jetzt ins Detail.

Die Analyse

Wenn ich die Tracks der Freunde mit den ganz scharfen Geräten mit auf den Bildschirm lade, dann sehe ich, dass sie von ihren Gleit- und Steigvorteilen an diesem Tag kräftig profitierten. Ich freue mich mit ihnen an ihren unauslöschlichen Leistungen. Adi Seitz widmete seinen Flug dem lieben Jan, der auf einer Bergtour diesen Winter ums Leben kam und der für uns alle ein Vorbild in jeder Hinsicht war. Michael Sigel umflog mit grosser Eleganz die Hochalpenpassagen und gewann den Tag. Ernsthafte Mitbewerber um den ersten Schweizer 300er FAI zogen die Wispile als Startplatz einige Dutzend Kilometer südlich des Niesens vor, profitierten aber nicht. Chrigel Maurer musste wieder einmal die für einen Profi undankbare 29-Hundert notieren. Ihm erging es wie fast allen: Der Tag ging urplötzlich lange vor Sonnenuntergang thermisch zu Ende. Auf Chrigels ersten 29-Hundert FAI vom Niesen im April (!) vor drei Jahren konnte er abends eine Stunde länger fliegen…

Fokussieren wir auf Urs und Toni. Beide wissen, wie man das 200er FAI vom Niesen erfolgreich fliegt. Die Prognose für den Montag, 30. Juli 2018 verheisst nicht mehr als dieses schöne Ziel. Über den höchsten Flugabschnitten soll sogar recht übler Wind liegen. Das Rennen beginnt jedoch schon recht früh, kurz vor zehn Uhr. Die Vorzüge der Niesen-Kette mit ihren gleichmässig gegen Morgen ausgerichteten tiefen Steilhängen erweisen sich als überaus ergiebig.

Regel Nummer 1 für das grosse Dreieck greift: Schnell fliegen. Es ist von Beginn an ein Gemeinschaftserlebnis. Selten fliegen Urs und Toni ohne Sichtkontakt nach vorne und hinten zu Kameraden. So geht es 60 Kilometer auf der Standardroute mit leichter Abweichung in Gstaad dahin. Gefühlt senkrecht über dem Genfersee setzt Urs sieben Minuten vor Toni die Wende, 60 Kilometer knapp unter dem 30-er Schnitt, sensationelles Timing. Toni lässt mit dem Phantom oft nicht soviel liegen, aber der Sector hat möglicherweise diese ultraschnelle Delphin-Fliegerei mitgeprägt.

Balsam für die Seele der Ausblick über den Genfersee. Vor Urs Haari fliegt Rolf von Arx mit dem Phantom. Das gelingt nach 60 schnellen Morgenkilometern heute nicht vielen, bravo Rolf.

Nun geht es nördlich der Rhone talaufwärts, normalerweise langsamer als im Süden, aber für die Talquerung müsste man mit dem Tower Sion in Kontakt treten. Wie auch immer, Urs und Toni wählen unter vielen anderen die Nordseite über der Rhone, bis die Kontrollzonen von Sion hinter- und unterflogen werden können. Toni hält jetzt souverän Kontakt zu Urs, bis zur grossen Talquerung über Visp ins Mattertal. Das Nord-Süd verlaufende Mattertal erlaubt hohes Fliegen, was die sicherste Lösung für all die Probleme mit Wind und Turbulenzen ist. Wende 2 ist in Sicht.

Urs wendet safe vor dem Weissmies, ohne den Talwindüberflüss nach Italien zu prüfen. Urs liegt gut 10 Minuten oder sieben Kilometer in Front. Aber wir kennen unseren Toni. Er setzt die Wende 3 Kilometer weiter im Talschluss, mit der drohenden grössten Baustelle im ganzen Tal. Meisterhaft analysiert Toni die Bedingungen und kommt auf den dritten Schenkel zügig zurück. Er packt sich damit eine Dreiviertelstunde Rückstand auf den Buckel, sein Timing ist allerdings tadellos. Er quert richtig schön zurück über die Tiefen des Rhonetals und sieht über dem Horizont die Alpennordseite im sicheren Gleitbereich ebenso schnell wie Urs.

Als Toni wie vor ihm Urs an der Eiger-Westflanke auf 3200 m hochkurbelt, hat er immer noch die Dreiviertelstunde Rückstand, aber sechs Kilometer mehr auf dem FAI-Zähler. Wenn beide Wende 3 gleich setzen und zufliegen am Thunersee, hat Toni gewonnen. Und der holt jetzt auf, profitiert von den Hochalpenbedingungen, während Urs schon mit den stabileren Voralpenverhältnissen konfrontiert ist. Toni jetzt noch knapp 20 km hinter Urs. Noch früh und viel Airtime möglich. Aber es kommt ganz anders, als sonst. Toni wendet 18 25 Uhr hoch über dem Flugplatz Meiringen (Pistensperre bis 3. August). Lächerlich früh, sollte man sagen, nicht Tonis Art, so Kilometer herzuschenken. Aber Tonis Instinkte und seine nur zwei Tage alte Erfahrung dieser Wende täuschen ihn nicht. Er braucht jeden Höhenmeter, um entlang des Südufer des Brienzersees den Finalglide vorzubereiten. Als einer der wenigen dieses Tages sieht er die Talstation der Niesenbahn, bevor er kurz nach acht Uhr am Ufer des Thunersees landet.

Urs ist schon seit 25 Minuten am Boden und ihm fehlen rund 25 Kilometer bis zum Startplatz. Trotzdem gewinnt er das kleine Duell der Berner Oberländer Toppiloten, was ich hier jetzt so schreibe, beiden aber vielleicht völlig egal ist. Nur für die Statistik: Urs hat mit einer sehr schnellen Schlussphase über den Brünigpass Richtung Luzern Tonis Vorsprung aus dem Saastal auf- und überholt und konnte sich sogar leisten, vor Toni zu landen, der die Gegenwindroute zurück zum Niesen wählte. Beide sind sowas von schlauen Taktikern. Ich kann nur wieder staunen. Friedlich stehen sie jetzt auf dieser denkwürdigen Tageswertung auf Rang 3 und 4 hintereinander, mit schönen neuen Personal Bests vom Niesen.

Schön für Chrigel und Roli Mäder (die beiden rechts). Dieter Tanner, Urs Haari und Rolf von Arx (von links) fallen der schnellen Stabilisierung am Brienzersee zum Opfer und landen bei den beiden Partykollegen.

Die letzten beissen die Hunde. Ich sitze jetzt schon eineinhalb Stunden am Bildschirm. Ich geniesse manchmal die Schreiberei wie langsame Körperkontakte, anstatt den Text runterzureissen wie ein folgsamer Journalist. Ich würd’ gern’ noch was schreiben.

Aber mein Fuss pocht bei jedem Herzschlag. Vielleicht beschreibe ich später die Erlebnisse von Ursens Team-Piloten des High-Adventure-Serial Teams, die mit dabei waren, jeder voll toll: Rolf von Arx, der eine Supersaison fliegt, ohne dass er es überhaupt will, Beat Wyss, der die Phantom-Flotte des Teams masslos bereichert, und last but not least Nicole Leuenberger, die flog, als hätte sie das ganze Jahr nichts anderes gemacht.