Ich bitte um Nachsicht, dass ich ganz allein, nur so für mich, in den Tessin fuhr – und den besten Alpenflug bis zum 21. März abdrückte. Das Wochenende hatte mich mental in Grund und Boden gestampft. Armeen von Skifahrern zogen an meiner Gondelstation vorbei. Sonntag abend schoben wir endlose Reihen von Gepäckwagen, vollgepackt mit Partyzelten, Lautsprechern und Liegestühlen in die Gondeln, die Arbeit wollte nicht aufhören. Einer meiner Kollegen benahm sich so scheissig, dass ich ihm riet, die Brille vom Gesicht zu nehmen, wenn er weiter so ekelhaft sein wollte, ich war sowas von stinkig.
Daheim warf ich einen zerstreuten Blick auf die Wetterprognosen und die Couch lächelte mich freundlich an. Ich stellte den Wecker nicht, erwachte aber früh. Die Webcam von der Cimetta zeigte einen schmierig roten Himmel gegen Südosten, durchzogen von Wolkenbänken, Druckprognose sechs Hektopascal von Norden. Ich sah nach den Sondenwerten und schaute die Windmodelle genauer an und fand, fliegen würde es auf alle Fälle und recht lang, und das war eigentlich alles, was ich wollte, heute, in meinen 24 Stunden frei, bevor ich wieder in die Uniform steigen musste.
Vor dem Gotthard Tunnel schalteten die Ampeln auf beiden Spuren auf rot, drei Autos vor mir. Das wäre ja der Lacher der Saison, wenn ich schon wieder umkehren müsste. Das war uns tatsächlich kürzlich passiert. Ein Reisecar hatte im Tunnel havariert. Fünf Minuten später gab es grün – eine Baustelle auf der anderen Seite des Tunnels mit 60km/h einspurig war der Grund gewesen. Rückstau ins Loch sollte vermieden werden. Ein freundlicher blauer Himmel, Sonne im Gesicht, die Fahnen an der Autobahn hingen friedlich an den Masten, der Windsack auf dem Flugplatz Ambri zerfetzt, aber heute auch da kein Nordföhn. Hier wollte ich irgendwann heute noch durch, zweitausend Meter über dem Tal.
Ich mag Mornera nicht besonders, die Gründe sind diffus. Der Startplatz hat jedenfalls etwas Pornografisches. Zuoberst an einem regelmässigen steilen Kegel über Bellinzona, tausend Meter hoch. Ein grüner Teppich, eine schmale Schneise und Ablösungen, die mir sofort den Tagestarif durchgeben. Kurz nach halb elf. Ich bin mindestens eine gute Viertelstunde zu spät, aber nur ein Weitenjäger ist vor mir raus, das hält die Hektik am Startplatz in Grenzen. Wir sind lediglich zu zweit. Beat, ein reformierter Pfarrer aus dem Aargau, ist mit mir hochgefahren. Er macht einen überarbeiteten Eindruck – wie ich wohl auch. Am Sonntag, gestern, hatte er eine Konfirmation.
Etwas vom Reizvollen an Dreiecken im Tessin ist die unerhörte Menge an Talquerungen, die man fliegen muss oder kann, um was Grosses zu machen, oder auch was Kleines, es legt sich einfach überall ein Tal in die Quere. Autobahnen, Fabriken, Städte und Dörfer, wilde Schluchten, tief verschneite Stauseen, weite Wälder. Zeigt der Höhenmesser dann wieder 2500 oder gar 3000 Meter, bin ich weit über den Gipfelreihen. Ein Meer von Gipfeln, in Schnee und Eis gepackt. Dazwischen hocken die Täler, die steilen Kastanienwälder, selten Fichtenwälder, die die Thermik befeuern. Die Orientierung erfordert einige Ortskenntnis. Meine ersten Flüge hier vor Jahren flog ich mit dem Kompass. Jetzt kenne ich vieles mit Namen und weiss, wo’s lang geht – gehen könnte, Varianten sind die Regel, nicht die Ausnahme.
Der blau-grüne Omega vor mir hat das furchteinflössende Verzasca-Tal schon erfolgreich gequert und macht Höhe vor dem Maggia-Tal. Ich quere nach und bekomme Gesellschaft in der Luft. Von der Cimetta bei Locarno steigen Schirme hoch. Ich sehe einen Mentor 4 light – Sabina, unsere Team-Kollegin, die hier wohnt, ich sehe andere, Luca, Toni. Ich kenne ihre Schirme allerdings nicht, sehe erst abends, wer da auch auf Strecke ging. Hinter mir ist der Zürcher Fluglehrer Dominik Rohner unterwegs, an Mornera gestartet. Wir waren 2011 zusammen in Quixada. Nächste Querung.
Der erste ernsthafte Knackpunkt, der Salmone zwischen Valle Maggia und Val Onsernone. Ich komme zu tief an, weil ich zu tief abgeflogen bin, selber schuld, und habe Glück. Im Lee des Talwinds, der noch mässig ist, kann ich die kritischen Meter hochkreisen und komme rasch wieder in eine kräftige Ablösung. Unter mir fliegen Luca und Toni ein, der eine besser, der andere schlechter, und versuchen ihr Glück ebenso.
Die TMA Locarno ist diesen Monat noch nicht auf HX geschaltet, das heisst, ich brauche kein Flugfunk, um durchfliegen zu können. Also mache ich das. Satte Höhe, um über das Val Onsernone ins Centovalli zu gelangen. Ich fliege meine übliche tiefe Linie, um an der Wärme zu bleiben, was etwas langsamer ist, aber viel angenehmer. Die Grenze zu Italien. Aus dem Centovalli wird das Val Vigezzo. Die Thermik zeigt hier um diese Tageszeit bereits 7m Steigwerte an, nichts ungewöhnliches. Es ist nicht die Regel. Meist steigt es heute recht angenehm, drei bis vier Meter die Sekunde. Die Wolken sind hier sehr massig, aber es gibt genügend besonnte Wälder, um sie zu befeuern.
Ich trinke einen kleinen Schluck Wasser aus dem Schlauch. Beim Bähnli unter der Mornera waren die Abfalleimer randvoll und ich fischte dort zwei Pet-Flaschen raus. Eine hängt jetzt am Schlauch, die andere steckt im Cockpit. Mein Fluginstrument läuft zur Hälfte auf leeren Akkus. Ich war heute wirklich nicht auf den grossen Flug vorbereitet – wenigstens habe ich mein Bord-Pissoir dabei. Ich fliege raus übers Tal, wo eine Riesenwolke über einem Hügelzug hängt. Heute brauche ich den Wendepunkt Maqugnago nicht, ich kann was anderes probieren. Für ein 200-er FAI fliegen wir öfter über Domodossola und dann in die höheren Bergzüge Richtung Monte Rosa.
Ich habe keine Ambitionen auf einen 200-er. Ich weiss nicht, ob es Bescheidenheit ist, weil ich mich einfach nicht darauf vorbereitet habe, oder ob es daran liegt, dass ich mich ausgelaugt fühle wie eine Katzenmutter mit einem Maienwurf. Zeitlich wäre ich gut dran. Aber das Wolkenbild ins Tal hinauf zum Monte Rosa ist auch nicht rosig. Ein Teil ist blau, was auf Wind schliessen lässt, der andere Teil ist massig von Wolken überhangen. Da hinten hatte ich mal ein übles Talwind-Rodeo. Das letzte, was ich heute brauche. Die Abkürzung übers Val Vigezzo gelingt nicht schlecht. Draussen über den Wäldern des Haupttals, das zum Simplon raufführt, winkt eine Wolke. Sie geht und ich gehe mit gut 2000 m auf eine 9km Querung über das Tal.
In einer Flussbiegung unter mir sehe ich Wind und den spüre ich, Talwind, als ich mit 1300m drüben am Berg ankomme. Ich probiere noch, ins Luv zu gelangen, aber nicht lange. Da hat mein Rodeo damals angefangen, also fackle ich nicht lange und lasse mich mit 15-20 Anschiebe an den nächsten Prallhang blasen. Unter 900m kann ich die schwierige Mittags-Luv-Thermik ansoaren und bald zentrieren. Auf 2400 Metern beisse ich auf das Mundstück des Trinkschlauchs, um den Eisklumpen dort wegzukriegen und was zu trinken. Ich bin schon ein bisschen enttäuscht, dass meine erste Wende nicht weiter südwestlich liegt. Aber ich bin doch zufrieden. Die Uhr zeigt auf halb zwei, eine gute Zeit für diesen Schenkel, den ich sehr liebe, der schnell ist und ohne Probleme, seit ich auf Claudio Vostis und Peter Kleimanns Variante setze.
Ich geniesse die wunderbaren Bilder, die sich hier eröffnen: Zerfallene Steinhütten auf hohen Weiden, fantastische Granittürme in tiefgrünen Tannenwäldern, fluggeile Adler auf ihren Girlandenflügen. Um halb Drei quere ich in eisigen Höhen zurück in die Schweiz, ins hintere Maggia-Tal. Die Thermik reicht hier weit über 3000 Meter, ich muss mit dem linken Daumen aus dem Fausthandschuh schlüpfen, damit er wieder warm wird. Meine Route ist schön markiert von satten Cumuli. Weiter nördlich Richtung Gotthard ist es eher blau, was ich (fälschlicherweise) dem Nordwind zuschreibe, der um diese Tageszeit prognostiziert war. Weiter südlich sind die Cumuli zu breit und dicht, um schlau vorwärts zu kommen. Es schneit und regnet dort sogar recht grossflächig.
Ich verfolge jetzt den Plan, so weit nördlich wie möglich im Maggia-Tal den zweiten Wendepunkt zu setzen und über Valle Verzasca, Valle Leventina, Valle di Blenio, Val Calanca und Val Mesocco zum dritten Wendepunkt zu gelangen. Ein schöner Plan, der mir eine wunderbare Welt von Querungen, Passagen und Luv-Hängen verheisst. Ich bleibe dabei in der Komfort-Zone, rückreisetechnisch, denn alle diese Täler münden im oberen Lago Maggiore, unweit von Bellinzona, wo mein Auto in der warmen Märzensonne brutzelt. Die Rückreise soll stilvoll sein, wie der bisherige Tag (mit Ausnahme der fünf Minuten vor den Ampeln am Gotthard). Morgen muss ich wieder in der Uniform in der Gondelstation stehen.
Wie die Analyse später zeigte, war mein Plan schön, aber nicht effizent. Dominic Rohner, mein Quixada-Gefährte, flog um diese Zeit hinter mir auf ähnlicher Linie im Maggiatal. Er querte ganz hinten die Leventina und blieb in diesem Tal, schaffte die Querung über das Valle di Blenio bei Biasca und kam gut voran Richtung Bellinzona, wo oft viel Gegenwind stört und Abschattungen liegen. Dort treffen sich unsere Tracks wieder. Auf seiner Linie hätte ich zehn bis fünfzehn Kilometer auf mein FAI Dreieck draufgepackt. Der Haken an der Sache war allerdings, dass ich lediglich eine dunkle Vorstellung davon hatte, wo meine Wendepunkte Nummer 2 und 3 zu liegen kämen.
Und was ich mir heute keinesfalls entgehen lassen will, ist die geniale Luv-Kante eingangs Valle di Blenio, die granatenmässige Passage im Delfinstil ins Val Calanca, die problemlos ins Val Mesocco weiterführt, und damit hätte ich zumindest einen guten Wendepunkt eines flachen Dreiecks erreicht. Es passiert oft, dass man einen gewaltigen Satz macht im Tessin, aber auf dem dritten Schenkel verhungert. Das Dreieck wird so brutal geschrumpft, was schade ist. Es ist zwar nicht das Ziel, der Mitwelt zu zeigen, welche schöne Tour man geflogen ist, wenn es sich aber einrichten lässt, spricht nichts dagegen.
Mein Entschluss steht endgültig fest, als ich sehe, dass das Massiv zwischen Cima die Biasca und Pizzo di Claro unter mächtigen Wolken liegt. Hinten raus ist es immer noch sonniger unter guten Wolken. Einige davon bremsen mich dann doch etwas aus. Es dauert, bis ich aus dem Verzasca-Tal raus bin und mit verdächtiger Höhe über die Gotthard-Autobahn fliegen kann. Die Tannenwälder der Leventina gehen recht gut und dann kommt die sensationelle Strecke im Blenio-Tal. Während ich mich im Halbgas entlang der sonnigen Kante hochschiessen lasse, die Hände in den Speed-Brake-Risers, erblicke ich hoch über den Bergen zum ersten Mal seit der Cimetta einen Schirm in der Nähe. Es ist Sabina! Sie hat eine wunderbare Runde hingezaubert, das ganze Valle di Blenio umrundet, und den höchsten Tessiner Berg, die Adula, überflogen. Von dort kommt sie mir jetzt entgegen. Ich erkenne ihren Schirm allerdings nicht, da wir noch nie zusammen geflogen sind. Alla prossima allora!
Das Misox, die Misere, die Tragik-Komödie, immer dasselbe Lied! Wie selten bin ich aus diesem späten Tal rausgekommen! Auch dieses Mal scheint es kein Durchkommen zu geben. Die Nachmittagshänge rings um Mesocco sind düster überschmiert. Dort gibt es bestimmt Talwind, wie immer, da reicht die heute doch so gute Thermik nicht aus, um trotz Gebläse hochzukommen. Hilft nur eins: Auf der Morgenseite bleiben, im Lee, durchschleichen, soweit es eben geht, mein Flaches so weit wie möglich zufliegen, ein Bier kaufen, aufs Postauto für die restlichen paar Kilometer. Ich gleite mit wenig Sinken von Rippe zu Rippe, weit draussen am Berg. Hier gibt es um diese Zeit kaum Thermik, und die Krete ist abgeschattet. Ich spähe nach sonnigen Flecken in den Kastanienhängen über dem Talboden, drüben, auf der Sonnseite. Nichts. Über den Gipfeln stehen trotzdem Kumuli. Es ist obenraus immer noch labil, ein Hoffnungsschimmer.
Ich lasse mich langsam über die Talmitte treiben, spüre jetzt den Talwind in grosser Höhe, das Sinken ist aber immer noch gut. Der Landeplatz von Grono, wo Sabina soeben gelandet ist! Ich sehe sie nicht, glücklicherweise. Dort drüben über der Burgruine könnte der Talwind Aufwindtendenz haben, wenn er nicht zu stark ist, die Talsohle liegt in der Sonne, die Thermik kann vielleicht rauf in die abgeschatteten Hänge steigen. Gut tausend Meter über dem Talgrund erreiche ich den Hang, aber ich gebe mich keinen voreiligen Freuden hin, ich weiss, wie schwer es ist, hier wegzusteigen. Unter mir der Waldboden ist schneebedeckt und im Schatten. Lediglich der Talgrund und etwas vom Hang dort unten gibt Wärme ab. Ich versuche mir vorzustellen, wo der Talwind die Warmluft hinsteigen lässt. Handbreit für Handbreit kann ich hochkreisen.
Ich entscheide mich, eine Kante weiter vorzurücken, voll ins Gas, schmal machen, die Hände an den Speed Brakes, um alles mitzunehmen. Ich beobachte die ganze Zeit die Wolkenbänke, die die Sonne abdecken und antizipiere ihre Wirkung auf die Landschaft, die unter und vor mir liegt. Ich habe richtig entschieden, die Kante da vorne hat Sonne, der Talwind ist tendenziell aufwindig und nicht zu stark. Ein paar schwache Kreise, dann kann ich in das schmale Seitental eindringen und spüre, wie ein grosser, stetig steigender Bart mich mitnimmt. Ich wage einen Blick hinauf auf die Krete zum Veltlin, wo die Basis schön zeichnet und ich erlaube mir die fast erotische Vorstellung, dass mein Schirm meine gut hundert Kilo bald da oben unter die Wolke parkieren wird.
Es steigt schneller und schneller. Ich peile den nächsten guten Wald an, er gibt einen guten Bart ab, grossflächig steigt es mit anderthalb Metern, und dann hänge ich wieder über der Grenze zu Italien, sehe das endlose Tal des Veltlins, den Comersee. Ich weiss jetzt auch, dass ich das flache Dreieck wahrscheinlich mit einer dritten FAI-Wende getoppt habe, irgendwo im Bereich 160 bis… Kilometer. Was für ein Genuss, die herrliche Abendstimmung über dem Berg, nur wenig Aufmerksamkeit fordert der Gegenwind, mit viel Beschleuniger gleitet es raus ins Tal. Im dunstigen Licht ist der grüne Teppich von Mornera nicht zu sehen, aber ich weiss, wo er ist, dorthin führt die letzte Schleife. Es ist kurz vor sechs Uhr, als ich mitten in Monte Carazzo aufsetze.
Der Tag gibt mir die nüchterne Zahl 178 FAI, stolz. Wie ich hat auch Sabina viel mehr gesehen von diesem prächtigen Tessiner Flugtag als die 90 FAI, die sie verbucht. Und alle anderen, die guten Tessiner Jungs und Dominik mit rund 150 FAI. Das sind die nackten Zahlen eines Flugtages, der mir so viel gegeben hat, wieder einmal. Hinter der Zahl steckt aber doch etwas von dem, was Freude macht. Manchmal sind Dinge, die lange dauern, schöner, als wenn sie bloss ein, zwei Stunden dauern. Einen ganzen Tag lang, solange die Sonne die Lüfte bewegt, herumzustreifen, so weit der Flügel trägt, das darf man dann schon auch in Zahlen ausdrücken, um glücklich davon zu berichten. Es geht wohl unter die Kategorie Vergnügen, aber es ähnelt meiner Meinung nach guter Arbeit, die etwas hervorbringt, kreiert. Stimmt‘s?
Werner Luidolt
Mar 27, 2016 -
roli – ich liebe deine berichte – danke dafür und gratuliere zum lässigen flug!
Frank Schaufuss
Mar 27, 2016 -
Faszinierender Bericht, danke!
Lex Robé
Mar 27, 2016 -
Packend beschrieben, danke! War noch nie dort, aber schaut nach großer Abenteuerluft aus!
Wünsch Dir noch viele weitere Erlebnisse von der Sorte – nur mit besserem Karma zu Beginn… :-)
Till Gottbrath
Mar 29, 2016 -
Vielen, vielen Dank, Roli, für die schöne Geschichte!
Da bekommt man gleich Bock, auszurücken!!
Till